Die Automobilindustrie verändert sich grundlegend, das Tempo nimmt zu. Neben der „Globalisierung“ gilt die – im Wirtschaftskontext auch mit dem Schlagwort „Industrie 4.0“ belegte – „Digitalisierung“ als weiterer Megatrend. Mercedes-Benz ist ein Vorreiter dieser Entwicklung: Der Erfinder des Automobils treibt den Wandel vom Automobilhersteller zum vernetzten Mobilitätsdienstleister aktiv voran. Die Strategie und den aktuellen Stand der Entwicklung erläuterte Dr. Dieter Zetsche, Vorstandsvorsitzender der Daimler AG und Leiter Mercedes-Benz Cars, am Vorabend der IAA 2015 in Frankfurt. Mit der Fahrzeugstudie „Concept Intelligent Aerodynamic Automobile“, kurz „Concept IAA“, präsentierte Zetsche ein konkretes Beispiel für die faszinierenden Möglichkeiten der digitalen Produktentwicklung.

Bei Mercedes-Benz ist die Digitalisierung seit Jahren ein zentrales strategisches Thema in allen Unternehmensbereichen. Technische Innovationen wie die Elektrifizierung des Antriebsstrangs und insbesondere das autonome Fahren sind ohne die digitale Transformation nicht denkbar. Dasselbe gilt für die Produktion, wo die Marke mit dem Stern ebenfalls eine führende Rolle einnimmt. Mit der fortschreitenden Digitalisierung im Bereich Marketing und Vertrieb trägt Mercedes‑Benz parallel den veränderten Kundenerwartungen und dem damit verbundenen Wandel im Kommunikationsverhalten Rechnung.
„Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die vollständige Digitalisierung der gesamten Wertschöpfungskette – von Forschung und Entwicklung über die Produktion bis hin zum Vertrieb“, so Zetsche am Vorabend der IAA in Frankfurt. „Diese digitale Transformation ist bei uns in vollem Gange. Mercedes-Benz wandelt sich vom Automobilhersteller zum vernetzten Mobilitätsanbieter, wobei der Mensch – als Kunde und Mitarbeiter – immer im Mittelpunkt steht. Damit entwickeln wir das Unternehmen konsequent weiter und sichern unsere Zukunftsfähigkeit ab.“
Digitaler Prototyp: Mehr Tempo, mehr Präzision, mehr Vielfalt
Besonders weit fortgeschritten ist die Digitalisierung bei Mercedes-Benz im Bereich Forschung und Entwicklung. Zum Vergleich: In den 1970er Jahren waren Computerdarstellungen mit etwa tausend Elementen möglich. Ein Jahrzehnt später waren es bereits 25 Mal so viele. Heute sind es bis zu 80 Millionen Elemente, Tendenz weiter steigend.
Das so genannte „Digital Prototyping“ beschleunigt die Entwicklung von neuen Automobilgenerationen aber nicht nur, sondern es erhöht ihre Qualität und bietet Möglichkeiten zur Steigerung der Vielfalt. Das zukünftige Auto wird bei dieser Methode bereits in einer frühen Phase als digitaler Prototyp simuliert und optimiert.
„Mithilfe der digitalen Prototypen verbessern wir unter anderem die passive Sicherheit unserer Fahrzeuge – schneller, präziser und effizienter als je zuvor“, so Prof. Dr. Thomas Weber, Mitglied des Vorstands der Daimler AG und verantwortlich für Konzernforschung und Mercedes-Benz Cars Entwicklung. Ein weiteres, besonders eindrucksvolles Beispiel ist die Aerodynamik. „Das Stichwort heißt Big Data, die Auswertung von Massendaten aus unterschiedlichsten Quellen“, so Weber weiter. „Bevor wir ein neues Auto auch nur in die Nähe unseres Windkanals lassen, hat es als komplettes Datenmodell bereits viele digitale Tests erfolgreich bestanden.“
Welche Möglichkeiten und Potentiale sich dadurch für die Serienentwicklung ergeben, ist unschwer zu erraten. Ein Beispiel: Schon bei den aktuellen Serienmodellen stellt Mercedes-Benz fast in allen Klassen den jeweiligen Aerodynamik-Weltmeister. Beim Formel-1-Team werden die Chancen der Digitalisierung bereits maximal genutzt. Für Anbauteile wie aerodynamische Features bis hin zu neuen Motor- und Antriebsteilen ist der Weg vom Datenmodell im Computer auf die Rennstrecke oft beindruckend kurz und schnell.
Produktion: Kürzere Innovationszyklen und bessere Ergonomie
Auch die Produktion wird dank Digitalisierung flexibler und effizienter. Das Ziel ist die intelligente Fertigung, die sich durch Wandlungsfähigkeit, Ressourceneffizienz und bessere Ergonomie für die Mitarbeiter auszeichnet. Dr. Zetsche: „Je mehr Vielfalt wir im Markt haben, desto mehr Flexibilität brauchen wir in der Produktion. Der Schlüssel heißt auch hier Digitalisierung: Werke werden zu smart factories, Anlagen und Bauteile sind lückenlos vernetzt. Und noch wichtiger: Mensch und Roboter arbeiten in der smart factory der Zukunft harmonisch zusammen.“
Schon heute sind Roboter in der Automobilproduktion allgegenwärtig – vor allem dort, wo die Arbeit für Menschen besonders belastend oder ergonomisch sogar schädlich wäre. Heute wird ein Montageschritt in der Regel entweder von Mitarbeitern oder von Robotern erledigt. Letztere befinden sich aus Sicherheitsgründen noch hinter Schutzzäunen. Das wird sich ändern, denn Mensch und Roboter werden in Zukunft direkt miteinander interagieren.
Mensch und Maschine arbeiten Hand-in-Hand
Die kognitive Überlegenheit des Menschen und seine Flexibilität mit der Kraft, Ausdauer und Zuverlässigkeit der Roboter zu  verbinden, erhöht nicht nur die Qualität, sondern führt auch zu deutlichen Produktivitätssteigerungen. Und zugleich ergeben sich ganz neue Möglichkeiten in Bezug auf ein ergonomisches sowie altersgerechtes Arbeiten – auch und gerade mit Blick auf den demographischen Wandel in der Gesellschaft.
Markus Schäfer, Bereichsvorstand von Mercedes-Benz Cars Production und Supply Chain Management: „Die intelligente Zusammenarbeit von Mensch und Roboter spielt für uns eine zentrale Rolle. Um es klar zu sagen: Beim Einsatz von neuartigen Robotern geht es nicht um die Frage ‘Mensch oder Maschine?‘. Wir setzen auf ein intelligentes Miteinander.“
Wilfried Porth, Personalvorstand der Daimler AG: „Die Erfahrung, Kreativität und Flexibilität unserer Kolleginnen und Kollegen können Roboter auch in Zukunft nicht ersetzen. Ernsthaft belastende, kraftaufwändige Arbeiten werden allerdings weniger. Hier sehen wir die ideale Arbeitsteilung für Mensch und Roboter.“
Produktionsplanung: Steigerung von Flexibilität und Präzision
Durch Digitalisierung können zukünftige Produktionsanlagen besonders flexibel konstruiert werden, so dass Auf-, Aus- und Umbaumaßnahmen ohne größere Verzögerungen möglich sind. Das verbessert nicht nur die Voraussetzungen für die langfristige Planung, sondern ermöglicht auch eine schnellere Reaktion auf kurzfristige Marktschwankungen.
Ein Beispiel für diese wandlungsfähige Produktion ist das sogenannte Objekt-gekoppelte Montage-System. Dabei lassen sich mobile Roboteranlagen in unterschiedlicher Weise in der Produktion einsetzen, ohne dass dafür das Produktionsband technisch angepasst oder angehalten werden muss. Die Roboter können an die entsprechende Karosserie auf dem Produktionsband andocken, ihre Arbeit verrichten und bei laufendem Band zum nächsten Fahrzeug wechseln. Digitalisierung wird von Daimler aber auch in der Qualitätssicherung eingesetzt, wenn es um die Zusammenarbeit ganzer Anlagen geht. Intelligente Fabriken, eine einheitliche Automatisierungs- und Steuerungstechnik, unternehmensweite Standardmodule und neue netzbasierte Arbeitsmodelle werden in Zukunft einen intensiven Austausch zwischen den einzelnen Werken ermöglichen. Dadurch wächst das globale Netzwerk der Daimler AG enger zusammen und führt zu einer größeren Effizienz in Produktion und Vertrieb.
Diese Effizienz überträgt sich auch auf die Zulieferer: Probleme an einer Produktionsanlage können per Ferndiagnose erkannt, analysiert und gelöst werden. Eine solche Vernetzung mit anderen Firmen ermöglicht auch dort schnellere und effizientere Prozesse und steigert ganz allgemein die Qualität der Zusammenarbeit.
Vertrieb: Mehr Individualität durch Digitalisierung
Die digitale Revolution endet jedoch nicht, wenn ein Fahrzeug die Werkshalle verlassen hat. Auch im Vertrieb nutzt Mercedes-Benz die Möglichkeiten der Digitalisierung. Im Rahmen eines Best Customer Experience arbeitet Mercedes‑Benz mit dem Multikanalansatz, der eine Vielzahl von innovativen Vertriebsformaten und digitalen Elementen flexibel miteinander verknüpft. Dabei wird verstärkt auf die Digitalisierung aller Kanäle gesetzt – sowohl in der Kommunikation als auch bei Verkauf und Service. Online-Stores ergänzen die bisherigen Vertriebsstandorte und ermöglichen jederzeit die Bestellung und das Leasing eines Fahrzeugs.
Auch in der realen Welt wird verstärkt auf digitale Interaktion gesetzt: Die Mercedes me Stores sind mit zahlreichen digitalen Gestaltungselementen ausgestattet. Interessierte können an Multi-Touch-Screens und Plasma-Bildschirmen ganz unkompliziert ihr Wunschfahrzeug konfigurieren. Außerdem interagieren täglich bereits über eine halbe Million Menschen über die globalen Social Media Plattformen von Mercedes-Benz mit der Marke, mehr als bei jedem anderen Automobilhersteller.
Den einfachsten Zugang zur personalisierten Markenwelt bietet das Onlineportal von Mercedes me. Hier ist Mercedes-Benz jederzeit erreichbar. Das Spektrum reicht von der elektronischen Terminvereinbarung für den klassischen Kundendienst über die individuelle Vernetzung mit seinem eigenen Fahrzeug bis hin zum Angebot von persönlich abgestimmten Finanzdienstleistungen. Zudem findet der Kunde Angebote, die sich nicht nur auf das eigene Auto beschränken: Beispielhaft dafür stehen Mobilitätsdienstleistungen wie car2go sowie Informationen über Lifestyle-Aktivitäten und Entertainment-Angebote.
Mercedes me ist vor einem Jahr gestartet, Kunden können sich dabei europaweit von überall und zu jeder Zeit mit ihrem Fahrzeug verbinden. Demnächst kommen auch Kunden noch nicht vernetzter Fahrzeuge in den Genuss, ihr Auto komfortabel zu vernetzen – mit dem Mercedes connect me Adapter. Insgesamt 24 Pkw-Baureihen ab Baujahr 2002 lassen sich entsprechend nachrüsten, so dass der sichere Zugriff auf Fahrzeuginformationen möglich ist. Im Frühjahr 2016 startet Mercedes-Benz diese connect me Offensive sukzessive in den europäischen Märkten, wo connect me ebenfalls angeboten wird.
Mercedes me: Digitaler Zugang zur personalisierten Welt von Mercedes
„Bei Mercedes me steht der Kunde immer im Mittelpunkt und erreicht seine Marke überall und jederzeit. Ganz egal, ob er einen Service braucht, unterhalten werden möchte oder Funktionen seines Fahrzeugs fernsteuern will“, so Ola Källenius, Vorstandsmitglied der Daimler AG, verantwortlich für Mercedes-Benz Cars Vertrieb.
Zu den Innovationen bei Mercedes me zählt der neue Lifestyle-Konfigurator, der den klassischen Fahrzeugkonfigurator ergänzt: Der Kunde kann dabei seine individuellen Vorlieben für Einrichtung, Reiseziele oder Sportarten angeben und bekommt auf Grundlage seiner Auswahl ein Fahrzeug vorgeschlagen, das zu ihm passt.
Ola Källenius: „Mit dem Lifestyle-Konfigurator kann man sich seinen neuen Mercedes-Benz genauso aussuchen wie man heute zum Beispiel Mode im Internet bestellt – einfach, spielerisch und ohne ein Technik-Fan sein zu müssen.“
Dieter Zetsche: „Im Vertrieb bringt Digitalisierung vor allem die Chance, noch individueller auf die Wünsche unserer Kunden einzugehen. Der neue Lifestyle-Konfigurator zeigt: Digitale und reale Kundenwelt werden bei Mercedes weiter verschmelzen.“
Fahrzeugkommunikation und Datenschutz
Die schnelle Entwicklung der Kommunikationstechnik eröffnet noch ganz neue Perspektiven. Experten gehen beispielsweise davon aus, dass ein 5G-Mobilfunknetz bis zu 100 Mal schneller sein wird als LTE. Umfangreiche Software-Updates für das Auto zum Beispiel sind dann auch online nur noch eine Sache von Sekunden.
Gerade deshalb ist Datenschutz für das Unternehmen ein besonders wichtiger Faktor. Dieter Zetsche: „Die Chancen sind also groß, genau wie unsere Verantwortung für die Privatsphäre unserer Kunden und dafür, dass persönliche Informationen nicht an Dritte gelangen. Auf der anderen Seite bedeutet diese Verantwortung auch, dass unsere Fahrzeuge sicher sein müssen gegen Manipulationen von außen. Deshalb ist es unser Anspruch und unser Ziel, unsere Autos so sicher wie möglich zu machen. Dafür treiben wir einen hohen Aufwand.“
Der digitale Transformer: „Concept IAA“
Was die Digitalisierung für das Produkt Automobil konkret bedeuten kann, zeigt Mercedes-Benz auf der Internationalen Automobil-Ausstellung in Frankfurt mit dem „Concept IAA“(Concept Intelligent Aerodynamic Automobile). Die Steigerung von Tempo und Effizienz durch Digitalisierung lässt sich eindrucksvoll durch Zahlen belegen: Die Designentwicklung, die früher allein bis zu zwei Jahre gedauert hätte, wurde in weniger als elf Monaten geschafft.
Das Mercedes-Benz Concept IAA ist zwei Autos in einem: Aerodynamik-Weltrekordler mit einem cw-Wert von 0,19 und viertüriges Coupé mit faszinierendem Design. Die Studie, die auf der IAA in Frankfurt ihre Weltpremiere erlebt, schaltet ab einer Geschwindigkeit von 80 km/h automatisch vom Design-Modus in den Aerodynamik-Modus und verändert durch zahlreiche aktive Aerodynamik-Maßnahmen ihre Gestalt. Im Innenraum setzt das Concept IAA die gestalterische Linie von S-Klasse und S-Klasse Coupé fort, bietet neue touch-basierte Funktionalitäten und ein hochemotionales, digitales Bedienerlebnis. Zugleich gibt der Innenraum einen Ausblick auf das Interieur einer Businesslimousine der nahen Zukunft. Beim Exterieur setzen u. a. die Heckleuchten ein besonderes Glanzlicht, das an Sternenstaub oder das Glimmen eines Jettriebwerks erinnert. Diese Leuchten mit „Stardust“-Effekt werden Anfang 2016 in einem Serienmodell Premiere feiern.
Zugleich steht das Concept IAA beispielhaft für die technologisch fundamentalen, durch die Digitalisierung getriebenen Veränderungen in der Automobilbranche. Für Mercedes-Benz ist eine durchgehende digitale Prozesskette von der Forschung und Entwicklung über die Produktion bis hin zu Vertrieb, Logistik und Dienstleistungs-bereich heute schon mehr als Zukunftsmusik. Dieter Zetsche: „Für mich steht fest: Dieses Auto und die Aussichten von Mercedes-Benz haben eines gemeinsam: Beide sehen verdammt gut aus.“